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Bücherbrief

Literatur muss frei sein

06.05.2024. Salman Rushdie verarbeitet in einem humoristischen Meisterwerk das Attentat auf ihn, Joyce Carol Oates jagt einen babysittenden Serienmörder im  Detroit der Siebziger, Maren Kames verwickelt einen Hasen in einen Mayröcker'schen Sprachfluss, Philipp Lenhard lädt ins Café Marx und Melanie Möller erinnert: Wir sind mündige Leser! Dies alles und mehr in unseren besten Büchern des Monats Mai.
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Weitere Anregungen finden Sie in in der Lyrikkolumne "Tagtigall", dem "Fotolot", in der Kolumne "Vorworte", in unseren Büchern der Saison, den Notizen zu den jüngsten Literaturbeilagen und in den älteren Bücherbriefen.


Literatur

Salman Rushdie
Knife
Gedanken nach einem Mordversuch
Penguin Verlag. 256 Seiten. 25 Euro

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Das literarische Großereignis diesen Monat ist natürlich der neue Rushdie, den die Zeitungen gleich zum Erscheinungstag besprochen haben. Salman Rushdie setzt sich hier mit dem Attentat auseinander, das er nur knapp und mit schweren Folgen überlebt hat. Die Kritiker verneigen sich vor Rushdie, der dem Erlebten mit Humor trotzt. Mehr noch: Wie Rushdie Kindheitserinnerung und Reflexion über Traumata und die Selbstheilungskräfte des Körpers mit einem Essay über Literatur, Exkursen zu Primo Levi oder Shakespeares Hamlet und nicht zuletzt dem "archetypischen Psychogramm eines islamistischen Attentäters" verknüpft, kann Zeit-Kritiker Adam Soboczynski nur bewundern. Ein "literarisches Meisterwerk" ist für Soboczynski gar, wie Rushdie die lächerliche Motivik hinter der Monstrosität der Tat offenlegt. In der FAZ bewundert auch Jan Wiele die "Lakonie" des Textes. Beeindruckt ist er vor allem von jenen Passagen, in denen sich der Schriftsteller seinem Attentäter in einem imaginären Gespräch stellt: Er habe es mit Morden versucht, weil er nicht 'zu lachen wusste', schleudert Rushdie dem Fanatiker entgegen. Für taz-Rezensent Ulrich Gutmair stellt Rushdie hier nochmal unter Beweis, dass er einer der "besten Autoren der Gegenwart" ist, in der SZ liest Nils Minkmar mit Blick auf den iranischen Angriff auf Israel das Buch auch als Geschichte unserer Gegenwart. Die literarische Virtuosität verhindert allerdings nicht die Gewissheit, dass der Schriftsteller nun wieder im Schatten der Fatwa leben muss, denkt sich im Dlf Joachim Scholl, den der Text so beeindruckt wie traurig zurücklässt.

Joyce Carol Oates
Babysitter
Roman
Ecco Verlag. 624 Seiten. 24 Euro

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"Babysitter" heißt der neue Roman von Joyce Carol Oates und mutet uns doch allerhand zu: Erzählt wird die Geschichte Hannahs, einer angepassten und gelangweilten Ehefrau und Mutter, die sich im Detroit der späten Siebziger in einen Mann verliebt, der sie misshandelt und vergewaltigt. Sie deutet das Erlebte als Affäre um, versucht sich in den Täter hineinzufühlen und lässt schließlich zu, dass ein unschuldiger Schwarzer angeklagt wird. In die Handlung montiert Oates die realen Morde eines Serienkillers, der Mitte der Siebziger als Mörder kleiner Kinder unter dem Namen "Babysitter" berühmt wurde. Der geradezu unerträgliche Detailreichtum, mit dem Joyce die Brutalität schildert, beeindruckt die Dlf-Kritikerin Undine Fuchs ebenso wie die virtuose Überblendungstechnik, mit der die Autorin die Handlungen verknüpft. Auch Susan Vahabzadeh (SZ) kann den fesselnden und plastischen Roman gar nicht aus der Hand legen, so sehr wird sie in die Gedankenspiele hineingezogen. Als "packende Studie" über Angst und die "Bedingungen von Gewalt" empfiehlt Sonja Hartl den Roman im Dlf Kultur. Und die beeindruckte Guardian-Kritikerin Julie Myerson lernt von diesem "wilden und panoramischen Werk", wie im Kern verrottet die hier beschriebene Gesellschaft war.

George Saunders
Tag der Befreiung
Stories
Luchterhand Literaturverlag. 320 Seiten. 25 Euro

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Seinen überschäumenden Einfallsreichtum stellt George Saunders in neun neuen Kurzgeschichten unter Beweis und die Kritiker überschlagen sich vor Begeisterung. Dabei skizziert Saunders hier überwiegend Dystopien und Untergangsszenarien, etwa wenn er ein Bild von Amerikas naher Zukunft nach der verhängnisvollen Präsidentenwahl malt oder von Intrigen, Entrechteten, Niedertracht und Ohnmacht erzählt. Aber Saunders tut dies derart virtuos, vielschichtig und zugleich konzentriert, dass es dem SZ-Kritiker Gustav Seibt schon fast zu perfekt gerät. Aber eben nur fast, denn als künftigen Klassiker sieht er den Erzählband durchaus. In der FR macht Sylvia Staude in den beklemmenden Geschichten um innere Gefängnisse immer wieder auch Hoffnungsschimmer aus, etwa, wenn sich die Figuren mit ihren Situationen arrangieren oder für einen Moment das "sonnenbeschienene Leben" aufblitzt. Als unberechenbar, minimalistisch, mitunter fantastisch und orwellianisch beschreibt Welt-Kritiker Wieland Freund Saunders Erzählungen.

Maren Kames
Hasenprosa
Suhrkamp Verlag. 182 Seiten. 25 Euro

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Genauso wenig wie ein Genre ist ein Plot in Maren Kames "Hasenprosa" auszumachen, versuchen wir es trotzdem: Die Erzählerin, genau wie die Autorin eine Maren, ersinnt sich einen Hasen als Gesprächspartner, mit dem sie durch Raum und Zeit bis ins All fliegt, bei der eigenen Großmutter ebenso Halt macht wie bei Adorno oder Friederike Mayröcker und gelegentlich auch über Aktuelles wie den Krieg in der Ukraine nachdenkt. Das hilfreichste Stichwort scheint Mayröcker zu sein, daran halten sich die meisten, fast ausnahmelos begeisterten Kritiker fest: Zeit-Kritiker David Hugendick lässt sich etwa von dem Mayröcker'schen Sprachfluss mitreißen, nur innehaltend, um eifrig Wortneuschöpfungen wie "Rumpelpotenz" und "Sowiesobedarf" zu notieren. Von der Gegenwart will man sich in dieser "wild wuchernden Prosa", die Lyrik, Drama, Drehbuch und Songs mixt, gar nicht stören lassen, meint Tobias Lehmkuhl im Dlf. "Riesenspaß" verspricht uns auch Andreas Platthaus in der FAZ, der gern mit Kames und ihrem Hasen zwischen den "Penetranzen und Hyperpräsenzen von Biografie und Autofiktion" hin- und herhüpft. Nur im Dlf Kultur räumt Nico Bleutge ein: Nicht immer passt alles unter Kames' literarischem Hut zusammen.

Aleksander Hemon
Die Welt und alles, was sie zusammenhält
Roman
Claasen Verlag. 400 Seiten. 26 Euro

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Eine Liebesgeschichte, die heute fast utopisch anmutet, kredenzt uns der in Bosnien geborene Schriftsteller Aleksandar Hemon, wenn er von dem jüdischen Apotheker Pinto erzählt, der sich im Schützengraben während des Ersten Weltkriegs in den Moslem Osman verliebt. Aber der Roman ist keineswegs eine Schmonzette, beruhigt uns Jörg Plath im Dlf: Vielmehr handelt es sich um einen großen Roman über Liebe, Krieg und Emigration, in dem gar die Grenze zwischen Tod und Leben überschritten wird, wenn Osman stirbt und doch nicht aus der Handlung verschwindet. Für Plath beweist sich Hemon hier ein weiteres Mal als Solitär der amerikanischen Migrationsliteratur, der gekonnt mit verschiedenen sprachlichen Einflüssen, etwa dem Bosnischen, Französischen, Deutschen, Tadschikischen, Uigurischen, Chinesischen und dem Ladino spielt. Auch Dlf-Kultur-Kritikerin Sigrid Löffler staunt, wie Hemon in diesem "bösen Märchen" Kriegsroman, Liebestragödie, Schelmenroman und Geschichtsbuch mischt und dabei eine fesselnde Erzählung spinnt, die vom Attentat auf Franz Ferdinand bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs reicht. Gern folgt sie dem pikaresken Protagonisten, der so vieles auf einmal ist: Soldat, Poet, Opiumjunkie und Held. Einen "grandiosen weltgeschichtlichen Abenteuerroman", der sich nie in seinen von Sarajevo bis Shanghai reichenden Handlungssträngen verirrt, liest Franz Haas in der NZZ. Er scheut angesichts der erzählerischen Kniffe sogar den Vergleich mit Nabokov und Borges nicht. Mitunter sind die sprachlichen Einsprengsel, die nicht übersetzt wurden, allerdings eine Herausforderung, räumt Burkhard Müller in der SZ ein.

Sachbuch

Robert Menasse
Die Welt von morgen
Ein souveränes demokratisches Europa - und seine Feinde
Suhrkamp Verlag. 192 Seiten. 23 Euro

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Europa - das scheint nicht erst seit seinem Roman "Die Hauptstadt" Robert Menasses Lebensthema zu sein. Bereits im Jahr 2012 blickte Menasse in "Der Europäische Landbote" auf Europa in der Krise - aber auch auf Chancen einer nachnationalen Demokratie. Diesen Gedanken greift der österreichische Autor in dieser Streitschrift für ein postnationales Europa erneut auf, angelehnt an Stefan Zweigs "Die Welt von gestern", in dem Zweig das kosmopolitische Europa vor 1914 schildert. Menasse mahnt zur Besinnung auf das "epochale Friedensprojekt" eines geeinten europäischen Kontinents. Ein "Kaleidoskop" von Argumenten aus Menasses vergangenen Essays und Romanen eröffnet sich hier dem Welt-Rezensenten Wolf Lepenies, der allerdings versichert, dass es Menasse keineswegs darum geht, bekannte Positionen zusammenzufassen: Wie er sich dem Thema nähert, mit kritischer Sympathie, mit guten Argumenten gegen den Hass auf die EU, mit Verständnis für die Zukunftstauglichkeit des "postnationalen Projekts", gefällt Lepenies. Merkel und die Wiedervereinigung bekommen ihr Fett weg in diesen Texten, die Habsburger werden gestreichelt und der Nationalismus mit Wut bedacht, so Lepenies händereibend. Mut schöpft SZ-Kritiker Geertjan de Vugt aus diesem Buch: Nicht nur gefallen ihm Menasses kompetente Begriffserklärungen, vor allem seine glühenden, klugen und auch witzigen Analysen erinnern ihn daran, dass es starke Kräfte gibt, die dem Höhenflug antieuropäischer Parteien entgegentreten können.


Victoria de Grazia
Der perfekte Faschist
Eine Geschichte von Liebe, Macht und Gewalt
Klaus Wagenbach Verlag. 512 Seiten. 38 Euro

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Man könnte diese Geschichte für einen Roman halten, und doch entspricht sie der Wahrheit. Die amerikanische Historikerin Victoria de Grazia erzählt uns von dem italienischen Faschisten Attilio Teruzzi, der sich nach dem Ersten Weltkrieg Mussolini anschließt und bald einer der wichtigsten Köpfe in dessen Regierung wird. Allerdings ist Teruzzi mit der säkularen Jüdin Lilliana Weinmann verheiratet, was zunächst kein Problem darstellt: Die beiden werden zu einem Glamour-Paar des Faschismus - bis die Ehe zerbricht und Weinmann sich der geforderten Annulierung der Ehe widersetzt. Die FAS-Kritikerin Karen Krüger empfiehlt das außergewöhnliche Buch nicht nur als  "eine Art sozialgeschichtliches Gruppenporträt" des faschistischen Italiens, sie hebt auch de Grazias exzellente Forschungsarbeit hervor. FAZ-Kollege Sven Reichardt lobt vor allem Spannung, "Leichtigkeit und Eleganz", mit der die Historikerin dem Aufstieg des italienischen Faschismus beschreibt, während Alexander Cammann in der Zeit sogar ironischen Witz ausmacht: Ein preiswürdiges Buch, schließt er.


Marina Münkler
Anbruch der neuen Zeit
Das dramatische 16. Jahrhundert
Rowohlt Berlin Verlag. 544 Seiten. 34 Euro

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Viel Lob bekommt Marina Münkler von den Kritikern dafür, dass sie nicht nur einen fast abseitigen, sondern auch einen gegenwärtigen Blick auf das 16. Jahrhundert wirft. Denn nicht um Reformation oder Renaissance geht es der Mediävistin, vielmehr betrachtet Münkler die Epoche entlang der großen "Konfliktlinien", wie Marc Reichwein in der Welt versichert: die Eroberung Amerikas, die Ausbreitung des Osmanischen Reiches und die Glaubenskriege in Europa nimmt sie in den Blick und lässt dabei immer wieder Zeitzeugen in Briefen oder Flugschriften zu Wort kommen, was der Erzählung eine gewisse Dramatik verleiht, so Reichwein. Auch SZ-Kritiker Lothar Müller ist dankbar, dass die Autorin sich nicht auf die "großen Männer" wie Karl V. oder Philipp II. konzentriert, sondern Mechanismen wie Militärtaktik, Risikofinanzierung oder Elitenselektion analysiert. Im Dlf Kultur erkennt Hans von Trotha vor allem Parallelen zur Gegenwart, etwa wenn Münkler die schon damals eklatante Bedeutung der Medien hervorhebt und auch aufzeigt, wie immer wieder die krassesten Schmähungen die größte Aufmerksamkeit erhielten. Ganz wie heute eben. Insgesamt lernt Trotha, wie einiges, was uns heute umtreibt, bereits im 16. Jahrhundert seinen Anfang nahm.

Philipp Lenhard
Café Marx
Das Institut für Sozialforschung von den Anfängen bis zur Frankfurter Schule
C.H. Beck Verlag. 624 Seiten. 34 Euro

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Lenhard hätte sein Buch natürlich auch "Grand Hotel Abgrund"nennen können. So hatte ja Ernst Popper einst über die Frankfurter Schule gespottet. Aber "Café Marx" (übrigens ein Café, das es tatsächlich gegeben hat), ist ja auch schon mal nicht schlecht. Was die Rezensenten an dem Buch lieben: Lenhard kriegt es hin, Theoriegeschichte zu erzählen und dabei konkret zu bleiben. Es geht um Orte, Häuser, Innenarchitekturen, Klatsch aus der Szene, Ehefrauen und erboste Konkurrenten. Von den Köpfen, so die Rezensenten, hat der Autor also die Herren Adorno und Horkheimer auf die Füße gestellt. Und keineswegs nur die: Man erfährt auch, wer der Unternehmer Hermann Weil und sein Sohn Felix waren. Ohne deren Geld wäre das Institut schließlich gar nicht entstanden. Übrigens kommen auch die zentralen Forschungsprobleme des Instituts nicht zu kurz, erfahren wir etwa von taz-Kritiker Marc Ortmann, etwa wenn Lenhard nachzeichnet, wie zunächst die ausbleibende Revolution im marxistischen Sinne, später die Barbarei im Zuge des Nationalsozialismus und nach dem Krieg die Verteidigung des Einzelnen gegen die verwaltete Welt die Aktivitäten des IfS prägten. Das Buch hat bisher eine ausschließlich positive Resonanz bei den Kritikern in taz, Welt und FAZ.


Melanie Möller
Der entmündigte Leser
Für die Freiheit der Literatur. Eine Streitschrift
Galiani Verlag. 240 Seiten. 24 Euro

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"Literatur muss frei sein, wild, darf böse sein und muss auch weh tun können, sonst verliert sie ihren Reiz", sagt Melanie Möller laut Klappentext. Und deshalb schreibt die Altphilologin in dieser Polemik gegen zensierte Klassiker, Sensitivity-Reading, politisch korrekte Literatur und glättende Übersetzungen an, denn der Leser ist mündig, erinnert sie. Ein Buch zur rechten Zeit, das uns einen Streifzug von der Antike bis in die Gegenwart bietet und auf Ovids Verbannung ins Exil ebenso blickt wie auf Kleist oder die Debatten um Amanda Gorman oder Wolfgang Koeppen. (Mehr hier und hier) Möller zieht eine Linie von der Zensur verschiedener Diktaturen bis zur Cancel Culture von heute, stellt dabei beispielsweise die Rezeption von Euripides und Annie Ernaux oder Sappho und Astrid Lindgren gegenüber und plädiert für das Aushalten von Ambivalenzen, resümiert im Dlf Jörg Magenau, der in Möllers "brillanter Provokation" den Anfang für eine notwendige Debatte erkennt. In der Welt liest auch Mladen Gladic angeregt, wie die Autorin etwa Ovid mit Joseph Brodsky paart und auf Parallelen in beider Schicksal aufmerksam macht. Belege dafür, dass Literatur heute ständig vom Canceln bedroht sei, führe Möller aber kaum an, meint er. Ähnlich urteilt Ulrich Rüdenauer, der das "gelehrte" Buch im SWR zwar mit Gewinn liest, aber das "Bündnis von moralinsauren Besserwissern", das scheinbar ganze Bibliotheken umschreiben will, nur selten bemerkt.
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