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Efeu - Die Kulturrundschau

Hipster, Jiver, Cool Cats

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.05.2024. Die Feuilletons trauern um Frank Stella: Er startete beim Kleinstmöglichen und endete in der "buntestmöglichen Explosion des Gemäldes im Raum", erinnert die SZ. Die Welt wird völlig umgehauen von David Haddas bereits in Cannes ausgezeichneter ARD-Serie "Die Zweiflers". Die NZZ entdeckt Wu Tsangs "Carmen" in Zürich als Tanztheater - die Nachtkritik sieht dabei sogar dreifach. Die Welt verabschiedet sich wehmütig von Doc-Martens und der Subkultur.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.05.2024 finden Sie hier

Kunst

Frank Stella's 'Harran II', 1967. Polymer and fluorescent polymer paint on canvas, 120 x 240 inches. Solomon R. Guggenheim Museum

Die Kritiker trauern um den amerikanischen Bildhauer und Maler Frank Stella. Seine Laufbahn, erinnert Till Briegleb in der SZ, "startete er mit der Bildsuche vom kleinstmöglichen Ausgangspunkt, dem 'Schwarzen Quadrat' von Malewitsch, um später zur buntestmöglichen Explosion des Gemäldes im Raum zu gelangen, wo Malerei wie raumfüllendes Chaos aussah". Die geschichtlichen Bezüge, vor allem auf die NS-Zeit, die Stella in seine Arrangements einbaute, erhielten nicht nur Lob, aber "die erklärte Absicht der Popkultur, die Nähe zum Kommerz zu feiern, anstatt ihn zu verschmähen, sah sich in Stellas minimalistischem Werk auf einem hohen Niveau befriedigt", so Briegleb. Der "Gefahr der Beliebigkeit der reinen Form" begegnete Stella "durch deren Verankerung in der Geschichte", weiß auch Stefan Trinks in der FAZ: "Die seit den Achtzigerjahren bunt lackiert und anarchistisch wild in den Raum ausgreifenden Metallreliefs etwa der 'Moby Dick'-Serie sind herausragende Beispiele einer abstrakten Kunst, die sich vom Text Herman Melvilles inspirieren ließ, ohne auch nur an einer Stelle illustrativ zu wirken. Die sich wie Papier einrollenden Blechformationen spiegeln psychische Energien von Captain Ahabs Jagd auf den weißen Wal wider, die martialische Variante der Romantiker-Suche nach der blauen Blume." Weitere Nachrufe in FR, NZZ, Welt, Berliner Zeitung und Tagesspiegel.

Ausstellungsansicht "Oliviero Toscani. Fotografie und Provokation". Foto: Susanne Völlm © ZHdK

Wer bei den Fotografien von Oliviero Toscani an "die Formel Menschenrechtskampf + Werbung = Zynismus" denkt, liegt nicht ganz falsch, meint Andrian Kreye in der SZ. Aber es ist eben auch nicht alles, kann er in einer Retrospektive des Fotografen im Zürcher Museum für Gestaltung sehen. Den meisten ist Toscani durch seine provokanten Werbebilder für die Marke Benetton bekannt, aber Kreye erkennt hier vor allen in den fotografischen Anfängen Toscanis "einen Humanismus", den dieser sich "nicht angelernt, sondern auf den Straßen von New York gebildet" hatte. In den Sechziger Jahren "zog es ihn in den Norden Manhattans, nach Harlem, wo ihn das Leben der schwarzen Amerikaner überwältigte. Da ist der Winkel seiner Objektive wieder auf Augenhöhe. Man sieht Hipster, Jiver, Cool Cats, all die Vorläufer der Moden und Subkulturen, die bis heute die Popgeschichte prägen. Er tauchte tief ein in diese Gesellschaft, gewann dort Freunde und einen Blick, der hinter dieser Mode-Avantgarde der Straßen eine soziale Bewegung erkannte."

Weitere Artikel: Konstantin Akinscha deckt in der FAZ auf, wie Russland durch die Ausstellung "Avantgarde in der Wüste" in der Universität Ca' Foscari auf Umwegen bei der Biennale mitmischt: Kuratorin Silvia Burini machte in der Vergangenheit durch ihre unerschütterliche Russlandtreue von sich reden, so Akinscha. In der taz unterhält sich Bettina Maria Brosowsky mit der iranischen Künstlerin Farzane Vaziritabar über deren neuestes politisches Werk - eine Skulptur aus Pferdeäpfeln.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Werken von Julie Wolfthorn in der Galerie des vdkb1867 in Berlin (taz), die Ausstellung "Wer hat Macht? Körper im Streik" im Frankfurter Kunstverein mit Werken von Gintaré Sokelyté und Sonja Yakovleva (FR), die Ausstellungen "Paris 1874. Inventer l'impressionnisme" und "Ein Abend mit den Impressionisten, Paris 1874" im Musée d'Orsay in Paris (tsp).
Archiv: Kunst

Musik

Das schwedische Malmö gilt "als Stadt der Bandenkriminalität und hat eine große palästinensische Community", schreibt Marco Schreuder im Standard. Dass dort kommenden Samstag der Eurovision Song Contest ausgetragen wird, sorgt im jüdischen Teil der Bevölkerung für Sorgen, erfahren wir weiter: "Es wäre für uns besser gewesen, der Song Contest würde nicht hier stattfinden", zitiert Scheuder Fredrik Sieradzki, den Sprecher der jüdischen Gemeinde Malmö. "Er fürchtet Übergriffe gegen Juden und Jüdinnen bei Demonstrationen gegen die israelische Teilnahme. Vor allem aber sorgt er sich um Fans, die aus Israel mit Fahnen anreisen werden. 'Wir empfehlen seit dem 7. Oktober 2023 unseren Gemeindemitgliedern, ohne jüdische Symbole auf die Straße zu gehen.' Für den israelischen Song-Contest-Experten und Buchautor Alon Amir ist Malmö der schlechtestmögliche Austragungsort. Amir, selbst früher Mitglied der israelischen Delegation, kritisiert die EBU, den europäischen Dachverband der öffentlich-rechtlichen Sender, scharf: 'Es ist unverantwortlich. Malmö ist keine sichere Stadt', sagt er."

Nicholas Potter spricht für den Tagesspiegel mit Yaron Trax, der bis 2022 in Tel Aviv den angesagten Club "The Block" betrieben hat - wegen Problemen mit dem Vermieter musste er schließen. Aber auch von außerhalb Israels wurde dem Club, der auch in der arabischen Community Israels sehr beliebt war, das Leben schwer gemacht: "Bis 2017 wurden wir als Club international gefeiert, Szenemagazine wie Mixmag oder Resident Advisor schrieben große Features über uns. Wir gewannen Preise. Und dann wurde es plötzlich ganz still." Trax denkt, "dass sie wussten: Wenn sie weiter über uns schreiben, werden sie dafür kritisiert oder könnten Fans verlieren. ... Das zählt auch für viele DJs, die nicht mehr in Israel spielen wollen - aus Angst, dass andere in der Szene, die vielleicht in der Tat antisemitisch und oft auch aggressiv sind, sie dafür anfeinden werden. Es gibt eine starke Cancel Culture in der Szene, viele wollen bloß nicht selbst boykottiert werden. Auch DJs, die tatsächlich in Tel Aviv auflegen, posten in den sozialen Medien in der Regel dazu nichts."

Außerdem: Axel Brüggemann spricht für Backstage Classical mit Olaf Maninger, Solocellist der Berliner Philharmoniker, über das eben absolvierte Europakonzert seines Orchesters in Georgien (mehr dazu hier). Yulia Valova spricht für den Tagesspiegel mit Alyona Alyona und Jerry Heil, die beim ESC am kommenden Samstag für die Ukraine antreten. Auf Zeit Online erinnert Katrin M. Kämpf an Françoise Cactus, die gestern 60 Jahre alt geworden wäre. Die FAS hat Elena Witzecks Bericht von ihrer Begegnung mit der österreichischen Schrammelrockband Endless Wellness online nachgereicht.



Besprochen werden ein Philip-Glass-Abend mit dem Berliner Konzerthausorchester (BLZ), ein Auftritt vom J Balvin in Wien (Presse) und das neue Album "Radical Optimism" von Dua Lipa (taz, mehr dazu hier).

Archiv: Musik

Literatur

Nynorsk, die Variante des Norwegischen, in der der Literaturnobelpreisträger Jon Fosse seine Romane und Theaterstücke verfasst, steht in Norwegen immer mehr unter Druck gegenüber der mehr ans Dänische angelehnten Variante Bokmål, schreibt Aldo Keel in der NZZ: "Droht Fosse am Ende die Leserschaft abhandenzukommen? Der Slogan 'Fuck Nynorsk' prangte vor den landesweiten Schulwahlen auf Plakaten über der Silhouette des Sprachschöpfers Ivar Aasen. Für viele Schüler, die Aasens Idiom als 'Nebensprache' lernen müssen, ist Nynorsk das überflüssigste Fach der Welt."

Weitere Artikel: Peter Neumann erzählt in der Zeit von seinem Besuch beim Schriftsteller Volker Braun, dessen neuer Prosaband "Fortwährender Versuch, mit Gewalten zu leben" gerade erschienen ist. Sieglinde Geisel hat ihr Gespräch mit Zoltán Danyi aus "Bilder und Zeiten" der FAZ in ihrem Tell-Magazin online nachgereicht. Richard Kämmerlings begrüßt in der Welt mit Goethe den Frühling. Im Literaturfeature von Dlf Kultur befasst sich Hartmut Kasper mit den großen KIs in der Science-Fiction-Literatur.

Besprochen werden unter anderem Jan Koneffkes Roman "Im Schatten zweier Sommer" über Joseph Roth (FR), Frances Stonor Saunders' "Der Koffer" (Standard), Armin Kasters und Sabine Rufeners Bilderbuch "Das Nachtkind" (online nachgereicht von der FAZ) und neue Krimis, darunter Fuminori Nakamuras "Die Flucht" (FAZ). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Rüdiger Görner über Hedwig Lachmanns "Unterwegs":

"Ich wandre in der großen Stadt. Ein trüber
Herbstnebelschleier flattert um die Zinnen,
Das Tagwerk schwirrt und braust vor meinen Sinnen ..."
Archiv: Literatur
Stichwörter: Fosse, Jon, Nynorsk, Norwegen

Bühne

"Carmen" in Zürich. Foto: Inès Manai.

"Carmen" als zeitgenössisches Theater mit Musik und Tanz? Dazu braucht man Kreativität, meint Lilo Weber in der NZZ angesichts Wu Tsangs Inszenierung der Bizet-Oper am Schauspielhaus Zürich. Tsang und ihre Gruppe Moved by the motion haben sich vorgenommen, die "Männerfantasie als solches" Stück für Stück zu dekonstruieren, so Weber. Inhaltlich kann das nicht ganz funktionieren, denn egal was man macht, Carmen bleibt letztendlich immer Fantasie. Tolles Theater ist das trotzdem, freut sich Weber, und die Musik trägt ihren Teil dazu bei: "Schnelle Rhythmen peitschen die Auseinandersetzungen um diese Suche an, als würde hier eine Uhr durch die Jahrhunderte ticken. Bläser scheinen wieder und wieder abzustürzen, als drohte alles im Nichts zu verschwinden. Die Geschichte beginnt an der Universität von Sevilla. Die Musikerinnen und Musiker lässt die Bühnendesignerin Nina Mader hinter einem Schleier draußen spielen." nachtkritikerin Christa Dietrich begrüßt die Idee einer "dreifachen Carmen": "Sie sind zu dritt. Eine raucht betont lasziv, in ihren schwarzen Haarlocken steckt eine rote Blüte. Eine zweite, üppig kostümiert als Operndiva, lacht schrill. Die Dritte liegt am Boden. Sie wird nach einiger Zeit weggeschleift."

Yael Ronens Inszenierung ihres Stücks "State of Affairs" am Thalia Theater Hamburg (nachtkritik, SZ), Tom Kühnels und Jürgen Kuttners Inszenierung von Friedrich Dürrenmatts "Die Physiker" am Landestheater Linz (nachtkritik), Maxim Didenkos Adaption von Kafkas Fragmentroman "Das Schloss" am Staatsschauspiel Dresden (nachtkritik), Max Simonischeks Inszenierung von Wilhelm Jacobys und Carl Laufs' Lustspiel "Pension Schöller" am Staatstheater Cottbus (nachtkritik), die Show "The Pulse" bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen (SZ), Niels Niemanns Inszenierung von Georg Anton Bendas Melodram "Ariadne auf Naxos" im Liebhabertheater Schloss Kochberg (FAZ), die internationale Koproduktion "We Are Hamlet" der Prague Shakespeare Company, dem Odesa Academic Ukrainian Music and Drama Theater "Vasily Vasilko" und der bremer shakespeare company, die im Theater am Leibniz-Platz in Bremen gezeigt wurde (taz).
Archiv: Bühne

Film

David Haddas "Die Zweiflers"

Hannah Lühmann ist in der Welt komplett umgehauen von David Haddas bereits in Cannes ausgezeichneter ARD-Serie "Die Zweiflers" über eine jüdische Familie, die in Frankfurt ein Delikatessengeschäft betreibt: "Ein 'jüdisches Sopranos' wollte er schaffen" und, "Gott, das ist ihm gelungen! ... Diese Serie ist deswegen so ungeheuer gegenwärtig, weil sie ein Milieu gewählt hat, das man so im Fernsehen nicht kennengelernt hat. Und aus dem heraus sich gerade deswegen alle Konflikte unserer Zeit mit einer so nicht gekannten Leichtigkeit erzählen lassen."

Weitere Artikel: Jonathan Guggenberger resümiert in der taz die ersten Tage der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen. Marius Nobach (FD), Jenni Zylka (taz), Jan Küveler (Welt), und Andreas Kilb (FAZ) resümieren die Verleihung des Deutschen Filmpreises (mehr dazu bereits hier). Besprochen werden Charlotte Wells' "Aftersun" (FAZ), Elene Naverianis "Amsel im Brombeerstrauch" (Standard), Davide Ferrarios Dokumentarfilm "Umberto Eco: Eine Bibliothek der Welt", der in Deutschland bereits seit Ende März im Kino läuft (Standard) und Michael Showalters auf Amazon gezeigte Romanze "Als du mich sahst" mit Anne Hathaway (SZ). In der Presse gibt Andrey Arnold aktuelle Kinotipps.
Archiv: Film

Design

Früher kam kaum eine Jugend- und Subkultur ohne sie aus, einen Aufkauf durch einen Finanzinvestor und Börsengang später steht es um die klassischen Doc-Martens-Schuhe allerdings insbesondere wirtschaftlich ziemlich schlecht, fürchtet Michael Pilz in der Welt. Womöglich sind es für die Stiefel einfach keine guten Zeiten mehr, "nachdem die digitalen Netze alle Subkulturen erledigt haben, bis auf jene, die sich allen offenen Netzwerken verweigern wie die Ultras in den Fußballstadien, die allerdings auch keine Docs mehr tragen, sondern Sneakers. Moden, die aus den in sich geschlossenen Kulturen des vergangenen Jahrhunderts stammen, Marken wie Doc Martens und Fred Perry, Merc, Lambretta und Ben Sherman, finden sich längst in einer verhängnisvollen Dialektik wieder. Einige wurden bereits zwischen Diversität und Distinktion zerrieben. Andere werden getragen und gekauft, weil sie sich ständig neu erfinden, ohne es sich mit den Alten zu verderben. Zwar steht der Fred-Perry-Lorbeerkranz für nichts mehr, außer für sich selbst, aber er steht, und die Geschäftszahlen scheinen stabil zu sein. Weniger gut sieht es für Dr. Martens aus und seinen Schuh zum Polohemd."
Archiv: Design